„Seebrücke Göttingen“ protestiert gegen die Kriminalisierung von Seenotrettungen
Sendung: | Mittendrin Redaktion |
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AutorIn: | Anja Würfel |
Datum: | |
Dauer: | 02:41 Minuten bisher gehört: 330 |
Manuskript
O-Ton 1, Carola Rackete (Audiowiedergabe auf Kundgebung), 34 Sekunden
„Hallo, ich bin Carola, die Kapitänin der Sea-Watch 3. Die Verantwortungslosigkeit der europäischen Staaten hat mich gezwungen so zu handeln, wie ich es getan habe. Es ist jetzt ein weiteres Jahr, in dem man hätte sagen können, ja, wir stehen zu den Paragraphen, die bei uns ganz vorn in der Verfassung stehen, denn die Würde des Menschen ist unantastbar. Stattdessen setzt die EU sich aber dafür ein, dass Milizen die Menschen zurück in die libyschen Folterlager eines Bürgerkriegslands bringen. Das akzeptieren wir nicht. Gemeinsam sagen wir: Schluss mit der Abschottungspolitik, Seenotrettung kennt keine Grenzen, genauso wenig wie unsere Solidarität.“
Text
So meldete sich die Kapitänin Carola Rackete mit einem Audiobeitrag bei der Kundgebung. Rackete rettete 42 Menschen aus Seenot und wurde vorübergehend verhaftet, weil sie trotz eines Verbotes im Hafen von Lampedusa anlegte. Sie sah keine andere Lösung, nachdem sie sich gezwungen sah, an Bord der Sea-Watch 3 den Notstand auszurufen. Ihr droht nun eine empfindliche Haft- und Geldstrafe. In den letzten Tagen sind zwei weitere Schiffe mit Flüchtlingen in italienischen Häfen eingelaufen – auch ihnen wird mit der italienischen Justiz gedroht. Die Seebrücke und andere Gruppen setzten sich gegen diese Kriminalisierung ziviler Helfer und Hilfsorganisationen ein. Dazu Larissa Lotte von der Seebrücke Göttingen:
O-Ton 2, Larrissa Lotte, 39 Sekunden
„Warum werden SeenotretterInnen anders behandelt als Feuerwehrleute oder RettungsdienstmitarbeiterInnen? Warum werden sie von Regierungen beleidigt, bestraft, kriminalisiert und mit allen nur erdenklichen Maßnahmen an den Rettungsmissionen gehindert? Wohl nur deswegen, weil die Menschen, denen sie helfen, nicht den richtigen Pass haben. Es werden längst nicht alle Toten gezählt. Nicht im Mittelmeer und nicht in den Wüsten Nordafrikas, wohin Europa das Sterben durch hohe Investitionen verlagert hat. Viele Boote mit vielen Menschen an Bord verschwinden, ohne dass wir jemals davon erfahren und das ist Absicht. Die Bürgerinnen und Bürger sollen die Bilder von sterbenden Menschen nicht sehen, denn wer könnte noch dieser mörderischen Grenzpolitik, die in unser aller Namen von unseren VolksvertreterInnen bestimmt wird zustimmen, wenn ihr tagtäglich mit dem Sterben vor der eigenen Haustüre konfrontiert würde?“
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Wie auf der Sea-Watch 3 rief auch die Seebrücke Göttingen den Notstand aus. Sie hätten sich dazu entschieden, die Menschlichkeit symbolisch zu Grabe zu tragen. Denn wenn Europa das Sterben an seinen Grenzen befördere, so spiele Menschlichkeit auch keine Rolle mehr. Tatsächlich sind nach der Einrichtung der Grenzschutzagentur Frontex im Jahr 2004 die Bestrebungen erhöht worden, durch Kooperationen mit Drittstaaten, die Möglichkeit zu haben, Geflüchtete wieder zurück nach Libyen zu bringen. Europäische Schiffe würden sich dabei strafbar machen. Die umstrittene libysche Küstenwache kann dies jedoch. Die Kooperation mit dem Namen „Seepferdchen Mittelmeer“ soll zukünftig ausgeweitet werden. Und im Warschauer Hauptquartier von Frontex wurde das Grenzüberwachungssystem Eurosur installiert. Es stellt jeden Vorfall an europäischen Außengrenzen in Echtzeit grafisch dar: mit Satellitenüberwachungssystemen aus dem All, Langstreckendrohnen und High-Tech aller Art. Kritiker werfen den EU-Projekten vor, dass deren Hauptzweck die Bekämpfung von Einwanderung sei. So auch Peter Lahmann vom Göttinger Lampedusa Bündnis:
O-Ton 3, Peter Lahmann, 32 Sekunden
„Der kleinste gemeinsame Nenner dieser Flüchtlingspolitik scheint zu sein: Sollen die doch irgendwo vor unseren Grenzen ertrinken, dann sind wir das Problem irgendwann los. Aber natürlich sind wir das Problem nie los, solange Reichtum und Chancen so ungerecht verteilt sind in der Welt wie heute, solange wird sich nichts lösen. Es wird sich nichts lösen, solange unsere Grenzen immer weiter militarisiert werden und sich das hineinwebt in unsere Zivilgesellschaften mit Entsolidarisierung, mit einem Verlust der Mitmenschlichkeit, mit einem dumpfen Nationalismus, der immer wieder neue Blüten treibt.“
Text
Das Lampedusa Bündnis gründete sich nachdem im Jahr 2013 vor Lampedusa 400 Bootsflüchtlinge ertranken. Laut der Organisation „Fortress Europe“ starben in den vergangenen zwei Jahrzehnten über 18.000 Menschen an Europas Außengrenzen. Die meisten davon im Mittelmeer. Auch die Organisation „Jugend Rettet“ hat sich an den Hilfsaktionen beteiligt. Das Schiff ihrer Organisation, die IUVENTA wurde durch italienische Behörden beschlagnahmt. „Jugend rettet“ fordert nun die Herausgabe der IUVENTA. Vor allem fordern sie jedoch die Entkriminalisierung des Helfens und ein Umdenken in der Politik. Tatjana Bendig von „Jugend rettet“ Göttingen zur politischen Debatte:
O-Ton 4, Tatjana Bendig , 35 Sekunden
„Anstatt zu handeln, diskutiert man in aller Ruhe über Seenotrettung als ob es um eine Steuererhöhung ginge oder den Neubau eines Radweges. Nein, es geht hier um einen Notstand der Menschlichkeit. Würden hier heute Morgen in der Göttinger Innenstadt zwei Linienbusse verunglücken, würde man dann auch diskutieren, ob ein sofortiger Rettungseinsatz den Göttinger Straßenverkehr womöglich störe. Der Vergleich klingt zynisch aber er beschreibt die momentane Diskussion. Wir fordern die sofortige Entkriminalisierung der Seenotrettung und stattdessen fordern wir, und es macht einfach wütend und betroffen, dass es nicht selbstverständlich ist, ein Europa, in dem die Würde des Menschen – und zwar eines jeden Menschen – wirklich an erster Stelle steht.“
Text
Laut „Jugend rettet“ würde jeder 45. Versuch, das Mittelmeer zu überqueren, mit dem Tod enden. Die Appelle an Politik und Verwaltung der Stadt Göttingen sowie die sich überschlagenden Vorkommnisse der letzten Tage scheinen eine Auseinandersetzung mit der Thematik unumstößlich zu machen. Die Göttinger SPD und die Grünen wollen sich nach der Sommerpause im Rat der Stadt dem Thema widmen.
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