“Deutsche Sprache, schwere Sprache” – Einblicke in den Unterrichtsalltag ukrainischer Schülerinnen in Göttingen
Sendung: | Mittendrin Redaktion |
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AutorIn: | Steffen Hackbarth |
Datum: | |
Dauer: | 05:58 Minuten bisher gehört: 509 |
Manuskript
O-Ton 1, Lisa und Nasta, 12 Sekunden
„Ich heiße Lisa. Ich bin 15 Jahre alt.“ - „Ich heiße Nasta. Ich bin 15 Jahre alt. Ich komme aus der Ukraine.“
Text
Die beiden Mädchen sitzen zu zweit im Klassenraum, hinterste Reihe, die einzige heute. Sie haben Deutschunterricht bei Olga Winter. Sonst seien mehr Schüler*innen da, erklärt Anette Bußmann, Studienrätin und Abteilungsleiterin für Hauswirtschaft und Berufseinstiegsschule an der BBS III Ritterplan in Göttingen. Viele der Schüler*innen hätten auch noch Fernunterricht an ihrer jeweiligen ukrainischen Schule und könnten deswegen heute die Sprach- und Integrationsklasse nicht besuchen. Aber sicherlich sei auch ein Grund, dass heute das StadtRadio zu Besuch ist. Seit ca. sechs Wochen lernen die beiden Schülerinnen zu diesem Zeitpunkt Deutsch. Für die beiden mindestens die dritte Sprache, die sie lernen. Sie sprechen:
O-Ton 2, Lisa und Nasta, 8 Sekunden
„Englisch, ja und Deutsch, nicht gut. „Russisch, Deutsch, Ukrainisch.“
Text
Olga Winter, ihre Lehrerin, kennt die Herausforderungen, sich die deutsche Sprache anzueignen. Sie wuchs russischsprachig in Kaliningrad auf. Während des Besuchs übersetzt Sie immer wieder Fragen, manches Mal auch Antworten, gibt Hilfestellungen, dass die Schülerinnen ihre Antworten selbst formulieren können. Lisa, Nasta und Olga Winter scheinen sich gut zu verstehen: Ob auf Ukrainisch, Russisch oder eben Deutsch. Auch wenn alle drei Sprachen zur indoeuropäischen Sprachfamilie gehören, macht Winter einige besondere Hürden aus:
O-Ton 3 Olga Winter, 33 Sekunden
„Die slawischen Völker, die Sprachen haben keine Artikel, aber dafür haben wir die Endungen. Die sind für uns relevant für unsere Artikel. Also Genus bestimmen wir mit Endungen und dementsprechend dekliniert man dadurch, dass die Endungen sich ändern, was im Deutschen zum Beispiel nicht passiert. Da ändert sich meistens nur der Artikel. Dafür hat man im Deutschen nur vier Kasus. Wie viele Kasus [fragt Lisa und Nasta, wie viele Kasus das Ukrainische hat, sie antworten sieben]. Dafür gibt es im Ukrainischen sieben Kasus.“
Text
Der Wissensaustausch funktioniert hier eben nicht nur in eine Richtung, aber nicht nur in der ukrainischen Sprache kennen sich die beiden Schülerinnen aus. Lisa besucht in der Ukraine im ersten Jahr eine berufsbildende Schule mit dem Schwerpunkt Tourismus. Hotelmanagement wäre ein Arbeitsfeld, das sie sich vorstellen kann. Sie reist selber gerne oder würde gerne reisen. Berlin und München möchte sie sehen. Darüber hinaus hat sie rhythmische Sportgymnastik für sich entdeckt. Die Lehrerinnen versuchen, den Kontakt zu örtlichen Sportvereinen herzustellen. Nasta hingegen besucht in der Ukraine die 10. Klasse und war sechs Jahre an einer Kunstschule. Sie möchte später im Bereich Design und Architektur arbeiten. Sie holt eine eindrucksvolle Bleistiftzeichnung einer Blume aus ihrem Notizheft hervor, die sie auf einer Exkursion angefertigt hat, wie Bußmann erklärt.
O-Ton 4, Anette Bußmann, 34 Sekunden
„Die Klasse kooperiert mit einer Klasse aus der Sozialpädagogik, eine Klasse, die gerade ihren Realschulabschluss macht. Und zum Beispiel haben die eine Exkursion letzten Freitag in den Botanischen Garten gemacht und dort einen Arbeitsauftrag gemeinsam ausgearbeitet und da profitieren natürlich die ukrainischen Mädchen von, dadurch dass sie auch deutsche Mädchen kennenlernen, und die deutschen Mädchen freuen sich auch, in den Austausch zu kommen und hier ein bisschen unterstützen zu können. Und das ist auch eine Klasse, in der Frau Winter auch Klassenlehrerin ist. Und nächste Woche nimmt sie dann die Mädchen auch mal mit in den Matheunterricht der deutschen Klasse.“
Text
In der Sprintklasse: Sprache und Integration steht Deutsch täglich auf dem Stundenplan, wöchentlich zweimal Mathe und einmal Sport. Darüber hinaus wird auch zusammen gekocht, um den Spracherwerb zum Beispiel mit Obstsalat etwas zu versüßen. Das Deutsche kann den Zucker gebrauchen. Die Schüler*innen haben aber auch längerfristig eine Perspektive an der Schule mit vielen individuellen Förder- und Ausbildungsangeboten. Viele von ihnen bleiben erst einmal hier. Winter betont, wie wichtig es sei, ihnen wieder einen Alltag zu ermöglichen:
O-Ton 5, Olga Winter, 37 Sekunden
„Natürlich muss man Rücksicht nehmen jetzt auf die Umstände, was die Schüler erlebt haben oder erlebt haben könnten. Wenn kein Bedarf besteht, dann nehme ich das nicht ins Unterrichtgeschehen - also keine Politikfragen oder Ähnliches. Wenn aber natürlich das Gespräch darauf kommt, also neulich kam aber nur relativ ganz kurz, was zum Beispiel jetzt in Charkiw ist oder um die Gegend oder so in der Westukraine. Ansonsten versuche ich wirklich, soweit wie möglich Normalität im Unterricht wieder gewinnen zu lassen, sodass ein normales Unterrichtsgeschehen passiert.“
Text
Lisa und Nasta scheinen sich unter den gegeben Umständen an der Schule wohl zu fühlen. Die vertrauensvolle Beziehung zu Olga Winter scheint ein wichtiger Faktor zu sein. Ein Zuhause kann Göttingen jedoch nicht ersetzen – wie sollte es auch? Vielleicht kann es dazu irgendwann werden, vielleicht muss es, darf es das aber auch nicht – die Entscheidung obliegt allein Lisa und Nasta und ihren Familien. Zu sehr hat der Krieg ihnen ihr Leben bereits diktiert. In diesem Kontext ist auch der Spracherwerb anzusiedeln. Es handelt sich eben nicht um einen Sprachkurs, den man abends in der örtlichen Volkshochschule besucht, weil man beim nächsten Italienurlaub eitel seine „due espressi“ bestellen möchte. Die Umstände zwingen die beiden jungen Frauen, Deutsch zu lernen. All diejenigen, die Deutsch sprechen, lernen mussten oder noch dabei sind, können Lisa nur zustimmen:
O-Ton 6, Lisa, 5 Sekunden
„Deutsche Sprache, schwere Sprache“
Zur Verfügung gestellt vom StadtRadio Göttingen
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