Sendung: Mittendrin Redaktion
AutorIn: Tina Fibiger
Datum:
Dauer: 03:11 Minuten bisher gehört: 175
Über die Verbrechen des NS-Hauptsturmführers Artur Wilke wurde in seinem Heimatdorf nicht gesprochen. Auch nach seiner Verurteilung als Massenmörder kursierte über den Volksschullehrer in Stederdorf bei Peine zunächst nur das Gerücht, er sei wegen Bigamie verhaftet worden. Dem Schweigen über den Täter und dem Verschweigen seiner Verbrechen widmet sich Jürgen Gückel in seinem Buch „Klassenfoto mit Massenmörder“, das im Vandenhoeck & Ruprecht Verlag erschienen ist. Der frühere Tageblatt-Journalist und Gerichtsreporter reflektiert dabei auch seine Erinnerungsarbeit und wie sich die dörfliche Nachkriegsgesellschaft den historischen Fakten verweigerte. Tina Fibiger über Jürgen Gückels politische Chronik „Klassenfoto mit Massenmörder.“
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Manuskript

Text

„Das Doppelleben des Artur Wilke“ hat Jürgen Gückel seine dokumentarisch-biografische Rekonstruktion im Untertitel genannt. Der frühere SS-Hauptsturmführer hatte nach dem Krieg die Identität seines gefallenen Bruders Walter angenommen, übernahm dann als falscher Onkel auch die Vormundschaft für seine eigenen Kinder aus erster Ehe und lebte bis 1961 als Volksschullehrer unbehelligt in Stederdorf bei Peine. Aufschluss über sein Doppelleben gab erst der Koblenzer NS-Prozess, als Wilke 1963 für die Ermordung von 6.600 Menschen während der NS-Belagerung im weißrussischen Minsk unter Anklage gestellt und verurteilt wurde.

Auf dem Klassenfoto mit seinem ersten Lehrer ist auch Jürgen Gückel abgebildet, der nicht nur die Vergangenheit eines Massenmörders anhand der Prozessakten rekonstruieren wollte. In seinem Buch beschreibt er auch die Situation in den Tötungslagern selbst, die sich dann für ihn auch in ihren unfassbaren Dimensionen darstellte. Wie erbarmungslos die Schließbefehle an der Grube erfolgten und wie Wilke selbst den Opfern die Pistole an den Nacken legte und abdrückte und sich in den Einsatzkommandos bestärkt fühlte, die Weißrussland judenfrei machen würden. Gückel hat diese Szenen fiktionalisiert und die Gedankengänge der Täter imaginiert. Zeugenaussagen belegen die Ereignisse, die sich auch für ihn manchmal der Beschreibung entziehen. In vielen Passagen klingt die Frage an, wie sich die Fakten aus der historischen Distanz überhaupt darstellen lassen auf welchem Wege eine Annäherung möglich ist und welche Erkenntnisse, sich auch für die Nachkriegsgesellschaft ableiten lassen, die davon nichts oder nichts mehr wissen wollte.

Immer wieder pendelt der Zeitchronist zwischen den Jahren und Jahrzehnten und beschreibt das Erinnerungsprofil seines Heimatdorfes. Die Verbrechen Wilkes waren weder während des Prozesses noch später ein Thema, als sich der Massenmörder nach 10 Jahren Haft wieder in Stederdorf niederließ. Gückel hat mit früheren Klassenkameraden Nachbarn und Freunden gesprochen, ob und wie sie diesen Artur Wilke erlebt haben und ob seine Entlarvung in ihnen etwas ausgelöst hat. Auch diese Begegnungen reflektiert Gückel im Gespräch mit sich selbst und konfrontiert sich und die Leser mit der Frage, wie authentisch oder verschwommen sich Erinnerungen überhaupt darstellen und wie glaubhaft sie nach Jahrzehnten sind. Fakt ist allerdings, dass sein Buch „Klassenfoto mit Massenmörder“ eine Zeit widerspiegelt, in der Alt-Nazis in Politik und Verwaltung etabliert waren und das große Schweigen über den Holocaust immer noch anhielt.