Neue Perspektiven gewinnen: Jim Jarmuschs „Paterson“ (2016) und die Poesie des Alltags
Sendung: | Mittendrin Redaktion |
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AutorIn: | Steffen Hackbarth |
Datum: | |
Dauer: | 03:56 Minuten bisher gehört: 196 |
Manuskript
Montagmorgen, 6:12 Uhr in Paterson, New Jersey: Aus der Vogelperspektive schauen wir dem liebevollen Ehepaar Paterson und Laura beim Aufwachen zu: Die Kamera schwenkt kurz auf die Uhr und wieder zurück auf das Paar; dann auf ein Wandregal mit alten bespielten Miniaturbussen, wie viele sie aus ihrer Kindheit aufheben. Zu guter Letzt schwenkt sie auf Lauras Beistelltisch mit einem Foto von Paterson aus Marinezeit, vermutlich ihren Eltern und dem gemeinsamen Hund Marvin. Laura erzählt ihm wie jeden Morgen, wovon sie geträumt hat; nur Paterson steht auf. Während er seine Frühstückscerealien isst, spielt er mit einer blauen Streichholzschachtel in seiner linken Hand. Sie wird das Thema seines ersten Gedichtes. Auf seinem Fußweg zur Arbeit hören wir Paterson, einen Anfang für das Gedicht formulieren, der zu sphärischer Musik und Naturklängen aus dem Off rezitiert wird.
In diesen ersten fünf Minuten des Films werden die Hauptmotive schon klar etabliert.
„Paterson“ ist ein Film, der sich Zeit nimmt. Er nimmt sich Zeit, weil die Kamera uns nicht von den Dingen erzählt, sondern sie uns unmittelbar zeigt. Wir sollen lernen, eine neue Perspektive auf die Dinge einzunehmen, womit wir zum zweiten wichtigen Leitmotiv kommen.
Gegenständen wird in „Paterson“ mindestens genauso viel Aufmerksamkeit geschenkt, wie sonst nur Menschen. Bisweilen entwickelt sich sogar das Gefühl, dass sich die Kamera nicht für die Geschichten interessiert, die sich die Fahrgäste im Bus erzählen. So verlässt die Kamera die Unterhaltung von zwei Schülern über einen straffällig gewordenen Boxer und fokussiert stattdessen nur deren Schuhe, anschließend eine kaffeetrinkende Mitfahrerin. Die Sensation liegt laut Blickwinkel also nicht in der reißerischen Schlagzeile, die uns aufwühlen soll. Die Kamera produziert Stillstand - einen Stillstand, der uns in ein wohliges Gefühl der Ruhe versetzt. Sie entreißt uns der großen Gefühle und versucht, dass wir uns ganz auf die Form, ganz auf die Dinge konzentrieren – was könnte es Herkömmlicheres geben als einen Turnschuh oder einen Kaffee to go?
Das dritte große Leitthema ist die Ehe von Paterson und Laura, stellvertretend für zwei verschiedene Zugänge zur Welt. Auf der einen Seite sehnt sich Laura, gespielt von Golshifteh Farahani, nach dem großen Durchbruch und dem großen Geld und damit dem Eventhaften in ihrem Leben. Sie träumt von einer wortwörtlichen Erfolgsgeschichte, die berichtet werden kann, wie so viele große Biographien es vorleben. Paterson hingegen verkörpert einen lyrischen Zugang zur Welt. Er agiert aus dem Verborgenen. Er verspürt kein Bedürfnis, seine Gedichte zu veröffentlichen, obwohl Laura ihn immer wieder dazu zu überreden versucht. Paterson ist zufrieden mit den Dingen, wie sie sind. Denn Lyrik braucht keine Handlung.
Jarmusch inszeniert mit „Paterson“ einen für westliche Sehgewohnheiten ungewöhnlichen Blick auf die Welt und nimmt für die Kameraführung und Darstellung Anleihen an japanischer Ästhetik, wie schon in seinem 1999 erschienenen Film Ghost Dog: The Way of the Samurai. Als Hauptinspiration haben aber die Gedichte des modernen amerikanischen Lyrikers William Carlos Williams gedient. Wie viele andere Filme Jarmuschs verlangt auch „Paterson“, sich auf seine langsame Erzählgeschwindigkeit einzulassen. Empfänglichen Entdecker*innen wird der Film jedoch viel Gedanken- und Gesprächsstoff bieten.
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