Verbrennungen hinterlassen ihre Spuren in Denis Villeneuves „Incendies – Die Frau, die singt“
Sendung: | Mittendrin Redaktion |
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AutorIn: | Steffen Hackbarth |
Datum: | |
Dauer: | 03:52 Minuten bisher gehört: 189 |
Manuskript
Text
Die Kamera blickt auf ein karges Tal – stellenweise durchziehen grünes Gestrüpp, ein paar Bäume und Palmen die Ödnis, im Hintergrund die Berge. Die Vegetation suggeriert Naher Osten und im Ohr schwillt „You and Whose Army“ von Radiohead an. Ein Linksschwenk gibt den Blick auf Männer in einem vom Krieg gezeichneten Gebäude frei. Sie tragen Maschinengewehre und ca. 12 Jungen mit gesenkten Köpfen warten darauf, dass diese geschoren werden. Einige der Kinder scheinen verletzt, viele verängstigt. Der Song erreicht seine Klimax, während unser Blick an einen der Jungen heranzoomt, der gerade geschoren wird. Dort trifft unser Blick sein markerschütterndes Schauen. Der erste nahtlose Szenenwechsel transportiert uns nach Kanada, in das Archiv eines Notars, der den Zwillingen Jeanne und Simon das Testament ihrer kürzlich verstorbenen Mutter eröffnet. Darin drückt sie den Wunsch aus, dass sie nicht eher ehrenvoll begraben werden will, bis ihre Kinder zwei Briefe übergeben: Einen an den ihnen unbekannten Vater, einen an einen weiteren Bruder, von dem die Zwillinge bis jetzt nichts wussten. So fremd, wie diese Forderung klingt, scheint auch das Verhältnis der Kinder zu ihrer Mutter gewesen zu sein. Denis Villeneuves Film „Incedies – Die Frau, die singt“ von 2010 ist eine Detektivgeschichte, in der die Zwillinge ihre Familiengeschichte posthum erst wirklich kennenlernen und kennenlernen müssen, um Frieden mit der eigenen Mutter und der eigenen Identität zu schließen. Jeanne, gespielt von Mélissa Désormeaux-Poulin, nimmt die Suche wesentlich bereitwilliger als ihr Bruder Simon auf. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin an einem mathematischen Institut ist sie es allerdings auch gewohnt, unlösbar scheinende Probleme anzugehen. Mathematik agiert dabei in dem Film stets wie ein Chor in der griechischen Tragödie als Kommentar auf das Geschehen und gibt Jeanne Hoffnung, die Wahrheit herauszufinden, egal wie unglaublich sie auch scheint. Ihre Reise verschlägt sie in den Nahen Osten und offenbart die Verstrickung ihrer Mutter in den dort ehemals herrschenden Bürgerkrieg. Das genaue Land wird allerdings nie benannt. Villeneuve folgt hier dem literarischen Vorbild – dem Theaterstück „Incendies“ – in der deutschen Übersetzung „Verbrennungen“ - des libanesisch-kanadischen Schriftstellers Wajdi Mouawad. Der Film möchte die ganz individuellen Wunden des Krieges inszenieren. Diese unpolitische Haltung mögen manche dem Film vorhalten. Allerdings erlaubt sie Empathie für alle abgebildeten Charaktere und vereint alle Zuschauende darin, die Abscheulichkeit und Tragik des Krieges an sich zu erkennen Zu komplex und verstrickt sind nämlich die Taten der Kriegsbeteiligten, sodass die Frage nach Schuld sich gar nicht ergeben kann, allerdings sich die Frage nach Vergebung umso mehr aufdrängt. „Incendies – Die Frau, die singt“ stammt aus Villeneuves franko-kanadischer Schaffensphase. Wesentlich bekannter sind hierzulande wahrscheinlich sein preisgekrönter Science-Fiction-Film Arrival von 2016 oder die ton- und bildgewaltige Bladerunner-Fortsetzung von 2017 mit Ryan Gosling. Mit „Die Frau, die singt“ bekommen Sie eine moderne griechische Tragödie zu sehen, gerahmt von einer Detektivgeschichte. Ihrem Schrecken kann nur mit Vergebung begegnet werden, wenn man nicht an der Vergangenheit zerbrechen will. Für diese tragische und bewegende Geschichte hatte übrigens das Deutsche Theater Göttingen 2006 schon den richtigen Riecher, da hier die deutsche Erstaufführung von „Verbrennungen“ stattfand.
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