Jüdischer Widerstand, deutsches Justizversagen und Versöhnung - Lesung von Achim Doerfer
Sendung: | Mittendrin Redaktion |
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AutorIn: | Johanna Wagner |
Datum: | |
Dauer: | 04:51 Minuten bisher gehört: 95 |
Manuskript
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Versöhnung – Genau davon ist vor allem in der Advents- und Weihnachtszeit die Rede. Sogar in Werbespots von Supermärkten wird die Versöhnung von Familien zu Weihnachten thematisiert. Von Versöhnung ist auch immer dann die Rede, wenn Politik und Gesellschaft einen Gedenktag für die Opfer der Shoa, dem Holocaust, begehen. Es wird oft die Versöhnung zwischen den Täter*innen und den Opfern des Völkermords hochgehalten. Zudem wird auch betont, dass von öffentlicher deutscher Seite um Vergebung gebeten wurde und wird. In seinem Buch „Irgendjemand musste die Täter ja bestrafen – Erinnerungskultur und Justizversagen nach 1945" schreibt Achim Doerfer unter anderem genau davon. Er sagt dazu:
O-Ton 1, Achim Doerfer, 13 Sekunden
„Ja leider ist bei allem, was an mangelnder Abarbeitung und Aufarbeitung des Nationalsozialismus stattgefunden hat, ja die deutsch-jüdische Versöhnung leider nur ein Märchen.“
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Doerfer beschreibt in seinem Buch, dass unter anderem ein anderes Verständnis von Versöhnung im Judentum ein Grund dafür sei. Denn im christlichen Verständnis gehört zur Versöhnung hauptsächlich die Schuldeinsicht und die Bitte um Vergebung. Beides geschieht regelmäßig an Gedenktagen. Im jüdischen Verständnis gehören dazu aber auch eine Verhaltensänderung und eine Entschädigung. Beides habe bisher nicht oder in zu geringem Maße stattgefunden. Teil der Verhaltensänderung wäre, die Verbrechen des NS-Regimes ordentlich aufzuarbeiten. Das habe bis jetzt nicht stattgefunden, so Doerfer. Er spricht sogar vom Versagen der deutschen Justiz nach dem Zweiten Weltkrieg und bezieht sich dabei auch auf Südniedersachsen:
O-Ton 2, Achim Doerfer, 23 Sekunden
„Das gab es hier natürlich wie überall sonst, da hat sich leider keine Region besonders hervorgetan. Und auch hier fehlt nach wie vor die Aufarbeitung, was ja umso schmerzlicher ist, als wir hier richtig intellektuelle Power, mit der Universität Göttingen unter anderem haben, das Thema auch mal anzugehen, sozusagen auch mal lokal vor Ort, Dinge noch zu vertiefen.“
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Zu viele Täter*innen seien davon gekommen, resümiert Doerfer. Von circa dreihundert- bis fünfhunderttausend Täter*innen seien nur circa 3.000 verurteilt worden – und das trotz hoher und guter Beweislage. Die anderen konnten unbehelligt leben und haben in einigen Fällen sogar Karriere gemacht. Dass es Widerstand während der NS-Zeit gab, weiß inzwischen jeder. Die „Weiße Rose“ dürfte allen ein Begriff sein. Jedoch gab es auch jüdischen Widerstand, über den nur wenig bekannt ist. Als ein Beispiel dafür nennt Doerfer die „Herbert-Braun-Gruppe“. Sie führte demnach einen Anschlag auf eine NS-Propagandaschau durch. Eine Großzahl der Mitglieder wurde dafür zum Tode verurteilt. Jüdischer Widerstand fand aber auch im Kleineren statt. Wie Doerfer in der Lesung erzählt, weigerte sich seine Großmutter, das „J“ in ihrem Pass zu vermerken. Das „J“ sollte sie als Jüdin erkennbar machen. Auf die Frage, ob er wisse, ob es in Südniedersachsen jüdischen Widerstand gab, sagt Doerfer:
O-Ton 3, Achim Doerfer, 32 Sekunden
„Nein, weiß ich überhaupt nicht. Und das ist ja genau das Traurige: Weil wir es nämlich nicht wissen. Obwohl wir wissen, dass es ihn gegeben haben wird, und zwar, ich bin ziemlich sicher, wenn man mal schauen würde, sowohl in der Form, dass jüdische Bürgerinnen und Bürger aus der Region zum Beispiel nach Frankreich in die Resistance gegangen sind, wie auch in der Form, dass man hier vor Ort kleinere Widerstandsakte im zivilen Ungehorsam, oder im „ich mach das einfach nicht mit, ich lass mich nicht gängeln“ dass es das gegeben hat.“
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Die Lesung behandelte auch das Thema der „jüdischen Rache“. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es nämlich auch jüdische Gruppen, die sich an bewiesenen NS-Täter*innen rächten. Einige der Täter*innen wurden von diesen Gruppen aufgespürt und schließlich getötet. Grund dafür war, dass die Mitglieder dieser Gruppen davon ausgingen, dass die deutsche Justiz die meisten Täter*innen laufen lassen würde. Inzwischen ist bekannt, dass die Befürchtung begründet war. Zudem wollten die Gruppen deutlich machen, dass sie so etwas, wie den Holocaust, nicht ungestraft mit sich machen lassen würden. Über die gesamte Lesung hinweg, wurde das Anliegen von Doerfer deutlich:
O Ton 4, Achim Doerfer, 23 Sekunden
„Ja, ich würde mir auch für Göttingen wünschen, dass wir mehr Wahrnehmung jüdischer Selbstwirksamkeit haben. In konkreten Beispielen. Ja, es gibt zum Beispiel das Thomas Buergenthal-Haus, das ist schon mal ein ganz guter Anfang. Aber im Anschluss an die Erforschung dessen was hier an Widerstand war, finde ich es wichtig, dann jüdische Selbstwirksamkeit auch herauszustellen, und Juden eben nicht nur als Opfer stattfinden zu lassen.“
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