"Eine Frage der Chemie“ - Wie eine Chemikerin zur Köchin wird
Sendung: | Mittendrin Redaktion |
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AutorIn: | Redaktion |
Datum: | |
Dauer: | 04:18 Minuten bisher gehört: 550 |
Manuskript
Text
Ein Geheimtipp ist „Eine Frage der Chemie“ von Bonnie Garmus schon lange nicht mehr. Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste, dazu 13 Wochen in den Top 5 – eine Platzierung, die sich sehen lassen kann. Und darum geht es: Elizabeth Zott ist Chemikerin in einem privaten Forschungsinstitut in Südkalifornien – als Frau in den 1950er-Jahren. Das da Vieles nicht ganz reibungslos abläuft, ist eine Untertreibung. Ihre Forschungsergebnisse werden unter anderen Namen veröffentlicht, sie hat es schwer, an Materialien zu kommen und muss sich außerdem immer wieder mit Männern herumschlagen, die sie nicht für voll nehmen. Auch sexuelle Übergriffe sind Elizabeth in ihrer Karriere in der Wissenschaft nicht fremd. Schließlich kommt die Wende: Durch einen Zufall wird sie Moderatorin der Kochsendung „Essen um sechs“ – vor allem, weil der Sender besser zahlt und sie außerdem ihre kleine Tochter versorgen muss. Dort krempelt sie die Vorstellung des Senders von einer gemütlichen Hausfrauensendung mit Kitsch und Charme gehörig um. Sie beginnt, ihre Rezepte durch Chemie zu erklären und der ganzen Nation vor den Fernsehern die Geheimnisse einer ausgewogenen, gehaltvollen Ernährung beizubringen.
Obwohl man gerne glauben möchte, dass Elizabeth Zott mit ihrer Kochsendung real ist und auf einer existierenden Person basiert, ist es nicht so. Und das ist es, was das Buch vermutlich gleichermaßen so mitreißend und erfolgreich macht und wohl auch den meisten Stoff für kritische Stimmen liefert. Elizabeth Zott ist als Hauptfigur liebenswert naiv in manchen Dingen, vor allem aber auch bewundernswert tough und sturköpfig. Die Dialoge sind pointiert, zeigen häufig auch, aber nicht nur durch Elizabeths Schlagfertigkeit eine gewisse Komik. Auch, wenn sie versucht, ihrem Forscherkollegen Calvin Evans ihre Liebe zu gestehen, indem sie über Paarungs-Pheromone von Seidenspinnern spricht, ist es schwierig, sich ein Schmunzeln zu verkneifen. Um einige Klischees kommt „Eine Frage der Chemie“aber nicht herum. Und auch davor, Eigenschaften und Situationen zu überspitzen, schreckt Autorin Bonnie Garmus nicht zurück. Bis auf wenige Ausnahmen sind alle Männer Arschlöcher oder unfähig oder beides. Ihren Kaffee bereitet sich Elizabeth natürlich in einem Erlenmeyerkolben zu, ihre Tochter ist so hochbegabt, dass sie auf dem Spielplatz E = mc^2 in den Sand malt. Selbst ihr Hund scheint etwas von dieser Intelligenz abbekommen zu haben: Teilweise werden ganze Abschnitte aus seiner Sicht erzählt. Elizabeth hat es zu ihrem persönlichen Projekt gemacht, ihm Wörter beizubringen. Zum Ende des Buches kennt er fast tausend Wörter – wie realistisch das alles ist, bleibt dahingestellt. Fast alle der sympathischen Charaktere haben eine tragische Hintergrundgeschichte. Vielleicht funktioniert „Eine Frage der Chemie“ aber auch gerade deshalb so gut. Der Roman ist mitreißend und spannend, aber auch herzzerreißend und emotional. Die Ungerechtigkeiten der Welt gegenüber Elizabeth treffen die Lesenden hart und unverklärt und machen es nachvollziehbar, wieso auch Elizabeth daran verzweifelt, unter Depressionen leidet und teils nicht weiter weiß. Elizabeth ist zweifelsohne feministisch, ebenso sind es ihre Anliegen. Und doch schlägt der Roman nicht zwingend eine Brücke zur Gegenwart: Wer ihn liest, kann sich gut zurücklehnen und denken „Jetzt ist das ja ganz anders“.Gerade durch den sehr direkten und unverblümten Schreibstil fordert der Roman aber auch trotz der zeitlichen Differenz emotionalen Tribut. „Eine Frage der Chemie“ wirkt perfekt komponiert und kalkuliert. Dadurch, dass keine reale Person Vorbild für die Geschichte war, konnte Autorin Bonnie Garmus sich alles so legen, wie es ihrer Geschichte diente. Das tut zwar dem Realismus an manchen Stellen Abbruch – Stichwort quasi sprechender Hund - , optimiert das Lesevergnügen aber sicherlich. N ur das, was der Titel eigentlich verspricht, kommt doch erstaunlich kurz: Die Chemie. Zwar nennt Elizabeth Wasser „H2O“ und weigert sich, statt „NaCl“ das Wort „Kochsalz“ in den Mund zu nehmen, aber bis auf einige fallen gelassene Fachwörter ist im Buch nicht viel Chemie drin. Wer also einen Basis-Kurs „Chemie beim Kochen“ sucht, eine historisch akkurate Biographie lesen möchte oder extrem viel Wert auf Realismus und viele vielschichtige Charaktere legt, ist hier falsch. Was die Autorin Bonnie Garmus aber geradezu meisterhaft erschaffen hat, ist ein Roman, der genau im richtigen Tempo erzählt. Ein Roman, der spannend ist, witzig und mit schnellen Dialogen, aber eben auch emotional und Platz lässt für die tiefen Ungerechtigkeiten, die der Protagonistin auf ihrem Weg durch das Leben begegnen.
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