Sendung: Mittendrin Redaktion
AutorIn: Tina Fibiger
Datum:
Dauer: 05:56 Minuten bisher gehört: 151
Es mag Ereignisse geben, die sich für eine Biografie haftbar machen lassen, so wie es Delphine de Vigan in ihrem Roman „Das Lächeln meiner Mutter“ zunächst versucht. Aber es gibt auch die erinnerten Bilder, die schon bald auf eine andere Sprache deuten. Die Autorin möchte sich mit den Ereignissen von früher vertraut machen und sie zugleich imaginieren und fiktionalisieren. Ihre Frage, ob am Ende nicht der Wahrheitsgehalt entscheidend ist, sondern die Wirkung, die diese Gedankenbilder hinterlassen, prägt auch die Inszenierung. Schirin Khodadadian hat sich für das Deutsche Theater in der Gipsabdrucksammlung des Archäologischen Instituts mit einer dramatisierten Fassung des Romans auf Spurensuche begeben. Bruchstücke und Splitter einer Familiengeschichte verdichten sich zu einem Schauspiel für drei Stimmen, „Nichts widersetzt sich der Nacht“, über das beredte Schweigen, das eine Mutter ihrer Tochter mit ihrem Selbstmord hinterlassen hat. Tina Fibiger berichtet.
Dieser Beitrag wird Ihnen präsentiert von: Das Backhaus

Manuskript

Text

„Lucille“ hat manchmal von früher erzählt, aber nie, wie es ihre dabei wirklich ergangen ist, als ein Bruder starb, ein weiterer Selbstmord beging und ein Pflegekind, das die Familie aufgenommen hatte, sein Leben unter einer Plastiktüte ersticken ließ. Auch von dem Vater, der sie vergewaltigte, hat sie in einem Brief berichtet, nur dass niemand davon etwas wissen wollte. Aber offenbar sind diese Motive nicht haftbar zu machen für ihren späteren Tod, wie sie jetzt zur Sprache kommen und in ihren Auswirkungen rekapituliert werden; berührbar gemacht von Angelika Fornell, Jenny Weichert und Tara Helena Weiß.

 

O-Ton 1, Einspieler „Nichts widersetzt sich der Nacht“, 17 Sekunden

 

Text

Die drei Schauspielerinnen ringen gemeinsam um verschiedene Perspektiven auf eine Familiengeschichte, in der es keine klassische Rollenverteilung gibt und kein realistisches Handlungsgefüge. Jede kann die mögliche Sicht der Mutter bekunden, die der Tochter und auch die der reflektierenden Chronistin, die als Kind die Ereignisse anders wahrnimmt als die erwachsene Frau. Wie auch der Roman springt die Bühnenerzählung „Nichts widersetzt sich der Nacht“ zwischen den Zeiten und welche Bedeutung ein Ereignis oder ein Erlebnis für Lucille gehabt haben mag, bis ein bipolarer Schub ihr Leben ein weiteres Mal radikal veränderte.

 

O-Ton 2, Einspieler, „Nichts widersetzt sich er Nacht“, 21 Sekunden
 

Text

Die gemeinsame Spurensuche beginnt am Eingangsportal zur Gipsabdrucksammlung, wo die ZuschauerInnen von Angelika Fornell wie AusstellungsbesucherInnen empfangen werden. Die Schauspielerin demonstriert die Technik des Gipsabdruckes mit dem blau eingefärbten Silikonguss. Der Übergang in die Bühnenerzählung erfolgt unmittelbar, mit der Beschreibung der Toten auf dem Bett und dem blau eingefärbten Gesicht. Dann bestürmt Tara Helena Weiß das tragische Memento von Angelika Fornell mit der Stimme der junge Lucille. Noch verweilt Jenny Weichert als attraktive, selbstbewusste und elegant gestylte Lucille unter den ZuschauerInnen, bis sie die verräterische Stimme des Vaters durchdringen lässt, der seine schöne kleine Tochter bewundert, die später seinen Leichnam mit unzähligen Fotos bannen würde.

 

O-Ton 3, Einspieler, „Nichts widersetzt sich der Nacht“, 21 Sekunden


Text

In der ersten Ausstellungsetage spüren die drei Schauspielerinnen den biografischen Splittern eines Kindes nach, das nach außen zu glänzen wusste, um sein Inneres und seine Ängste zu verbergen. Es würde die Nähe und den Tod von drei Brüdern aushalten, aus der patriarchalen Herrschaft in die befreiende Vision von Eheglück und Mutterrolle flüchten und wenige Jahre später erneut flüchten. Wie stumme Voyeure muten die Gipsgestalten an, bis einer ihrer starren Körper mitspielen muss, um eine schmerzhafte Episode berührbar befreiend anzusprechen. Auf dem Weg in die zweite Ausstellungsetage verdunkelt sich vorübergehend das Treppenhaus. Mit kleinen Handscheinwerfern demonstrieren die Schauspielerinnen, die Suche nach Lichtblicken unter all den Irrungen und Wirrungen in den Mutter-Tochter Begegnungen.

 

O-Ton 4, Einspieler, „Nichts widersetzt sich der Nacht“, 25 Sekunden


Text

Immer wieder fahnden die Schauspielerinnen im Parthenonsaal auch nach den Stimmen, die jetzt den Raum mit ihren Erklärungen und Beschreibungen über die Umstände eines unerklärlichen Abschieds wie Einflüsterungen durchdringen. Die kleinen schwarzen Lautsprecherröhren müssen immer öfter abgeschaltet werden, je mehr sich das Stück einer Erklärung verweigert, von der die Autorin weiß, dass sie vergeblich danach fragt. In diesem Sinne fragt auch Regisseurin Schirin Khododadian mit Angelika Fornell, Jenny Weichert und Tara Helena Weiß nicht nach Ursachen und Begründungen in der Biografie einer Frau, die sich als Überlebenskämpferin irgendwann am Leben erschöpft hat. Sie erzählen und reflektieren „Nichts widersetzt sich der Nacht“ als Liebeserklärung einer Tochter an ihre Mutter und als Geschichte einer Versöhnung mit dem Schweigen, in der unaussprechliche Geheimnisse nicht verletzend enttarnt werden, sondern geschützt bleiben.