Sendung: Mittendrin Redaktion
AutorIn: Tina Fibiger
Datum:
Dauer: 05:34 Minuten bisher gehört: 122
Eine Nebelwolke durchdringt den Bühnenraum mit stürmischen Windgeräuschen. Sie kündigt einen dieser Sandstürme an, denen die Familie Joad in John Steinbecks literarischer Chronologie immer wieder ausgesetzt ist. Die Dürre hat ihre Felder ausgetrocknet und den Ernteertrag verkümmern lassen. Den Rest erledigen die neuen Pachtverhältnisse, die eine erträgliche Bewirtschaftung unmöglich machen und die Familie in die Flucht nach Kaliforniern treiben. Das monströse Dröhnen der Wind- und Nebenmaschinen lässt an eine apokalyptische Vision denken Dieser Vision stellt sich am Deutschen Theater ein Chor von Überlebenskämpfern mit Steinbecks dramatischer Odyssee in der Inszenierung von Christoph Mehler Tina Fibiger war für uns dabei.

Manuskript

Text

In seinem Roman „Früchte des Zorns“ beschreibt John Steinbeck die Bösartigkeiten, denen eine Farmerfamilie mit der Hoffnung auf ein besseres Leben ausgesetzt ist. In einem Strom von Migrantenfamilien werden auch die Joads ständig beschimpft, angegriffen und nach irgendwo anders hin vertrieben. Niemand will sich auf diese vermeintlichen Wegelagerer mit ihrem armseligen Gepäck einlassen, die ja angeblich nur auf Almosen spekulieren.

 

O-Ton 1, Einspieler, „Früchte des Zorns“, 24 Sekunden

 

Text

Regisseur Christoph Mehler hält in seiner Inszenierung immer wieder inne für Nahaufnahmen, mit denen das Schauspiel-Team in das Innenleben seiner Figuren hinein hört, und was dieser andauernde Überlebenskampf ihnen zumutet. Judith Strößenreuther trotzt als mütterliche Kraft diesen Zumutungen, an denen sich Marco Matthes als Familienoberhaupt erschöpft. In der Rolle der schwangeren Tochter Rose träumt Tara Helena Weiß mit Daniel Mühe als leichtsinnigem Verlobten von einem häuslichen Vorstadtidyll neben Lukas Beeler und Paul Trempnau, die als Brüderpaar den Verhältnissen auf ihre Weise trotzen. Der eine würde sich in jeder Autowerkstatt beheimatet fühlen, der andere versucht vergeblich, seine Wut über Preistreiber und ihre Dumpinglöhne zu bändigen. Auf Christoph Türkeys Onkel Frank lastet eine Vergangenheit, mit der er sich auf dieser schmerzhaften Odyssee versöhnen will. Dem Aufbruch an schließt sich auch Gabriel von Berlepsch als glaubensabtrünniger Wanderprediger Casey an, der sich jeder Hoffnung auf eine versöhnende Zukunft verschließt.

 

O-Ton 2, Einspieler, „Früchte des Zorns“, 22 Sekunden

 

Text

Kontrastiert werden die Nahaufnahmen von einem Chor der Stimmen, den die acht Schauspieler*innen bilden, wenn sie die Ereignisse erzählerisch kommentieren und dabei auch die politischen und sozialen Verwerfungen anprangern. Gemeinsam lassen sie die Empörung gären und lautstark wüten, wie sehr sich das Elend auf der legendären Route 666 gen Westen zuspitzt und die Familiensolidarität dabei mehr und mehr zersplittert.

 

O-Ton 3, Einspieler, „Früchte des Zorns“, 24 Sekunden

 

Text

Erschreckend nahe geht die Zeitlosigkeit, die aus den Nahaufnahmen und den Chorstimmen spricht. Schon in Steinbecks literarischer Dokumentation über die Flüchtlingsströme nach der Weltwirtschaftskrise und die Hungerlöhne, mit denen die Wanderarbeiter und Erntehelfer nach dem Prinzip“ friss oder stirb“ erpresst wurden, rüsten sich die Bürgerwehren rassistisch auf. Und noch immer dominiert der kapitalistische Wettbewerb, bei dem mit den globalen Ressourcen auch das sogenannte Humankapital in seinen Lebens- und Überlebensverhältnissen gnadenlos ausgebeutet wird. Dafür braucht es auf der Bühne keine naturalistischen Zuschreibungen sondern nur den leeren Raum, den Bühnenbildnerin Jennifer Röhr mit acht Stühlen an der Rückwand und dem Schriftzug „Hope“ ausgestattet hat

 

O-Ton, 4 Einspieler „Früchte des Zorns“, 24 Sekunden

 

Text

Die Schauspieler*innen in ihren schwarzen Overalls rufen mit ihren Figuren die Bilder im Kopf ab, mit denen der Text in der Reflektion und emotional Alarm schlägt. In Christoph Mehlers Inszenierung wollen diese Bilder so schmerzhaft berühren und berührbar machen, wie sie die Verhältnisse widerspiegeln, in denen sich eine Familie kämpferisch erschöpft und doch nicht aufgeben wird. So wie diese Nebelwolke durchdringen dann auch die Chorstimmen den Bühnen und den Zuschauerraum manchmal bis an die Schmerzgrenze aber immer mit aller Leidenschaft und Empathie für Steinbecks „Früchte des Zorns“ und was sie anmahnen wollen und müssen.