Sendung: Mittendrin Redaktion
AutorIn: Tina Fibiger
Datum:
Dauer: 04:25 Minuten bisher gehört: 198
Dennis soll seine Comic-Sammlung hergeben, Agnes ihre grünen Sandalen und Gerda ihren Goldhamster. In der Klasse 7a haben alle ihre wunden Punkte, weil sie an Dingen hängen, die für sie von Bedeutung sind. Aber es sind eben nicht nur Teleskope, ein Gebetsteppich oder eine Geburtsurkunde, die sich die Jugendlichen gegenseitig abtrotzen. Bald hat es den Anschein, als ob auf der Bühne des Deutschen Theaters ein Wettbewerb um Schmerzgrenzen einsetzt, nachdem ein Mitschüler den Sinn des Lebens infrage gestellt hat. In der dramatisierten Fassung des Romans von Janne Teller „Nichts. Was im Leben wichtig ist“ werden sie vor allem mit körperlichen und seelischen Demütigungen kommentiert. Deren zerstörerische Wirkung prägt auch die Inszenierung von Ruth Messing, die das Stück als dramatische Rückblende in Szene gesetzt hat. Tina Fibiger hat sich die Premiere angesehen.

Manuskript

O-Ton 1, Einspieler „Nichts. Was im Leben wichtig ist“, 21 Sekunden

Mich packte ein unbändiger Drang, zu Pierre Anthon in den Pflaumenbaum zu klettern und in den Himmel zu schauen, bis ich ein Teil von draußen geworden und nichts geworden wäre. Aber aus mir sollte ja etwas und jemand werden. Deshalb lief ich nirgendwo hin, schaute bloß in die andere Richtung, ballte die Faust und presste die Nägel so fest in die Handflächen, bis es richtig weh hat.“


Text

Auf der Bühne schwebt ein Koloss, der zum „Berg aus Bedeutung“ erklärt wird. Am ersten Schultag nach den Ferien hatte „Pierre Anthon“ behauptet, es wäre völlig sinnlos sich durch Schule und Ausbildung, Job, Karriere und Familienplanung zu kämpfen und alle möglichen Sicherheiten zu schultern. Schließlich ende das Leben mit dem Tod und die Zeit bis dahin könnte genauso gut einen entspannten Verlauf nehmen. Schon bald überschlagen sich die Fragen, was mit diesem “Nichts“ gemeint ist und was wäre, wenn sich das Gegenteil beweisen ließe, was alles im Leben wichtig sein kann: Wie zum Beispiel die Geburtsurkunde, auf die ihre Besitzerin nicht verzichten will oder der Glaube, der mit dem Diebstahl einer Jesusfigur für den Berg aus Bedeutung demonstriert wird.


O-Ton 2, Einspieler „Nichts. Was im Leben wichtig ist“, 26 Sekunden

Wir hatten ganz vergessen, dass sich ja nun Elise ausdenken musste, was als Nächstes auf den Berg kommen sollte. Marie-Ursulas Haare! Ich habe eine Schere! rief Hussein und lachte laut. Schneiden muss ich. Ohne die Haare würde Marie-Ursula nicht mehr Marie-Ursula mit den sechs blauen Zöpfen sein und das würde bedeuten, dass sie überhaupt nicht mehr Marie-Ursula war.“


Text

Mit Gaby Dey, Anne Hoffmann, Marina Lara Poltmann, Nathalie Thiede und Alma Nossek vom DT-Spielclub widmen sich fünf Schauspielerinnen unterschiedlichen Alters den Kämpfen der Jugendlichen und wie sie sich immer schmerzhaftere Opfer zumuten. Da die Ich-Erzählerin „Agnes“ die Ereignisse nach acht Jahren Revue passieren lässt, hat Regisseurin Ruth Messing aus der Bühnenfassung des Romans ein ebenso widersprüchliches wie vielstimmiges Gedächtnisprotokoll geformt. So wie Agnes die Reaktionen in der Klasse erinnert, die so gewesen sein mögen, vielleicht aber auch ganz anders, als sie jetzt mit den Szenen erkundet werden. Eifersucht spielte damals vermutlich ebenso eine Rolle wie das soziale Ranking in der Klasse, auch die Lust, einander zu demütigen, die in der Wut über den erlittenen Verlust noch bösartiger ausfällt. Dabei findet auch ein Machtpoker statt, bei dem es zu wechselnden Parteilichkeiten in der Klasse kommt, angefeuert durch die Kommentare von „Pierre Anthon“. Wer immer auch gerade den Blick vom Gipfel auf diesem „Berg aus Bedeutung“-Koloss genießt, sieht sich später gedemütigt, verletzt und ausgegrenzt


O-Ton 3, Einspieler „Nichts. Was im Leben wichtig ist“, 19 Sekunden

Wer hätte gedacht, dass sich in der hübschen Rosa eine Schlachterin versteckt? Jan Johan hätte vielleicht nicht so laut gelacht, wenn er geahnt hätte, wozu die hübsche Rosa sonst noch imstande war. Das Gefühl, dass etwas faul war, schlich sich ein, als die hübsche Rosa um Jan Johans rechten Zeigefinger bat.“


Text

Natürlich muss das nächste Bedeutungsopfer noch spektakulärer ausfallen, als das zuvor. Auch diese subtile Rechnung in den jugendlichen Gemütern wird mit einem selbstbewussten Lächeln demonstriert, wenn nach der öffentlichen Empörung der Medienhype einsetzt und die schaurig-schöne Geschichte über einen zertrümmerten Zeigefinger so spektakulär kursiert oder die über den Kindersarg, der auf dem Friedhof für den Berg aus Bedeutung ausgegraben wurde. Sogar lukrativ verschachern lässt sich das symbolhaltige Aufgebot an Objekten, das an diesem Theaterabend vor allem eines symbolisiert: Es ist die Abwesenheit von Mitgefühl und Verständnis und Anteilnahme im Miteinander, um dem vermeintlichen „Nichts“ etwas von Bedeutung entgegenzusetzen, was diese Sinnsucher scheitern lässt, die ihr Publikum nachhaltig verstören und bewegen.