„Opfer der Wehrmachtsjustiz in der Erinnerungskultur“-Desertion im Kontext des Nationalsozialismus
Sendung: | Mittendrin Redaktion |
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AutorIn: | Lucio Jünemann |
Datum: | |
Dauer: | 05:58 Minuten bisher gehört: 158 |
Manuskript
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Immer wieder begegnen wir im Alltag Historikern. Wie der Name vermuten lässt, beschäftigen sie sich mit der vergangenen Geschichte. Meistens sind das ganz kluge Leute, die wie ein Lexikon Rede und Antwort stehen können. Marco Dräger ist eines dieser wandelnden Lexika. Gleichzeitig ist er aber auch Geschichtsdidaktiker – nicht so geläufig wie der Begriff des Historikers, aber für eine gelungene Geschichtsvermittlung unumgänglich.
O-Ton 1, Marco Dräger, 21 Sekunden
„Das ist jemand, der sich um die Vermittlung von Geschichte kümmert: Sei es in der Schule – Lehrkräfte für Geschichte kennen sie alle, die werden von Geschichtsdidaktikern ausgebildet. Aber mittlerweile ist das Feld weiter. Auch Geschichte in der Öffentlichkeit: Denkmäler, Straßennamen, Museen, all das, was dazu gehört, darum kümmern sich auch Geschichtsdidaktiker.“
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Dräger studierte Geschichte und ist seit einigen Jahren Teil der sogenannten „After Work Bildung“ in Göttingen. Seit 25 Jahren veranstaltet der Verein Themenabende. Vom 9. November bis zum 27. Januar findet die alljährliche Veranstaltungsreihe „Opfer der Wehrmachtsjustiz in der Erinnerungskultur statt“. Der Zeitraum ist nicht ohne Bedeutung. So startet die Reihe am Datum der Reichspogromnacht und endet am 27. Januar, dem Datum, an dem das frühere KZ Auschwitz befreit wurde. Mit der Rolle von „Deserteuren in der Erinnerungskultur“ beschäftigte sich Dräger kürzlich in seinem Vortrag. Die Menschen, die sich den Kampfbefehlen des Zweiten Weltkriegs aus unterschiedlichen Gründen widersetzten, werden Deserteure genannt. Offiziell war Deutschland nach der Kapitulation von der Wehrmachtsjustiz zwar befreit. Wie tief aber langte der nationalsozialistische Arm wirklich? Und war das Verhalten aus heutiger Sicht mutig oder feige?
O-Ton 2, Marco Dräger, 19 Sekunden
„Ich würde doch eher zu mutig tendieren, denn die Strafen waren ja auch den potenziellen Deserteuren bekannt, was ihnen drohte, wenn sie erwischt wurden. Insofern gehörte schon eine Menge Mut dazu. Gewissermaßen die Einheit zu verlassen, wenn man wusste was einem drohte. Mann musste aber auch nochmal gucken, was sind denn die Motive dafür.“
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Lange stellte sich in der Nachkriegsgesellschaft gar nicht die Frage, ob Kriegsdeserteuren gedacht werden solle. Sie zählten laut Dräger als Verräter oder„Kameradenschweine“ und waren unbeliebtes Gesprächsthema. Desertion war bis zum Beginn der 80er Jahre stark geächtet. Außerdem war der Wehrdienst einem Ehrendienst am deutschen Volk gleichzusetzen. Im Vortrag ergänzt Dräger, wer aus der Reihe tanzte, hatte nichts Gutes zu befürchten. Familien mit Deserteur-Bezügen haben aus Scham nicht nur im Krieg, sondern auch Jahrzehnte danach, geschwiegen. Dieses Verhalten habe vor allem an wenig Veränderungen in der Rechtsprechung gelegen. Viele Bereiche waren immer noch von alten Juristen geprägt. Diese Juristen nahmen Vorstellungen aus dem Dritten Reich mit in die Bundesrepublik. Daher blieb es nach Dräger vorerst bei einer nationalsozialistisch geprägten Justiz. Sogar heute falle es einigen Familien noch schwer mit dem Thema umzugehen.
O-Ton 3, Marco Dräger, 17 Sekunden
„Deserteure waren Opfer der Wehrmachtsjustiz, weil diese Justiz nicht rechtsstaatlich war, sondern exzessiv hohe Strafen, vor allem Todesurteile verhängt hat. Und die historische Forschung hat eben mittlerweile klar herausgearbeitet, dass das den Opferstatus von Deserteuren begründet.“
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Wendepunkt der öffentlichen Beurteilung von Deserteuren stellte demnach der Rücktritt des baden-württembergischen Ministers Hans Filbinger 1978 dar. Von der Filbinger-Affäre ist in diesem Zusammenhang die Rede, resümiert Dräger. Gemeint ist die aufgekommene Kontroverse zwischen Filbingers Taten und Ansichten im nationalsozialistischen System und seiner späteren Rolle als Minister Baden-Württembergs. Seitdem sei eine starke Wandlung im Umgang und Ansehen von Deserteuren erkennbar. Erst in kleinerer Form fanden Initiativen statt, später ganze Friedensbewegungen auf nationaler Ebene. Göttingen war Ende der 80er Jahre eine der ersten Städte, in denen es zu einem Umdenken gegenüber Kriegsdeserteuren kam.Viele deutsche Städte stellten Denkmäler für Deserteure auf. Auch in Göttingen erinnert seit November 1978 ein Denkmal an den Widerstand im Zweiten Weltkrieg.
O-Ton 4, Marco Dräger, 12 Sekunden
„Und mit der Friedensbewegung in den 80ern kommt dann der entscheidende Durchbruch. Da werden die Deserteure erstmals positiv wahrgenommen und zu Friedenstauben und Pazifisten idealisiert.“
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In den 1990er Jahren wurde aus heutiger Sicht von einer richtungsweisenden Transformation in Bezug auf Deserteure gesprochen. Die Debatte fand nun auf Bundesebene statt. Ein Großteil der Gesellschaft akzeptiert neu aufgestellte Denkmäler und die neue Richtung der Erinnerungskultur. Laut Dräger ist diese energische Debatte aber langsam abgeebbt. Trotzdem gebe es Annäherungsmöglichkeiten.
O-Ton 5, Marco Dräger, 30 Sekunden
„Die Denkmäler haben gewissermaßen einen Dornröschenschlaf. Sie waren in den 80ern und 90ern umstritten. Heute sind sie gesellschaftlich anerkannt. Das bedeutet aber leider nicht, dass da viel Rezeption stattfindet. Also alles, was an Streit und Debatten stattgefunden hat, ist mit der Formgebung „Denkmal“ verschütt gegangen. Sodass es schön wäre, auch hier nochmal anzuknüpfen, damit man eben jetzt gerade in gegenwärtigen Konflikten nicht nur Debatten der 80er und 90er wiederholt.“
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Deserteuren also weiterhin im geschichtlichen Kontext zu gedenken ist oftmals gar nicht mehr so einfach. Häufig scheint die Debatte beendet und für viele Menschen nicht mehr greifbar. Trotzdem verursacht das aktuelle Zeitgeschehen ein Wiederaufgreifen der Thematik. Der russische Angriffskrieg in der Ukraine führt zu einem intensiven, öffentlichen Dialog. Desertion betrifft die Gesellschaft plötzlich wieder.
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