Sendung: Mittendrin Redaktion
AutorIn: Eva Neubert
Datum:
Dauer: 04:30 Minuten bisher gehört: 223
Von „Integration ist gescheitert“ bis zu „mehr Konflikte sind ein Zeichen für gelungene Integration“ - die Bandbreite der Thesen ist vielfältig. Thilo Sarrazins polemische Aussagen, die der ehemalige SPD-Politiker 2010 in einem Buch veröffentlichte, heizten die Debatte in Deutschland ordentlich an. Häufig sprechen dabei scheinbare Expertinnen und Experten über Integration, statt mit den Menschen zu reden, um die es eigentlich geht, und sie selbst zu Wort kommen zu lassen. Dabei werde oft vergessen, dass wir schon lange in einer vielfältigen Gesellschaft leben, so Lena Gorelik in ihrem 2012 erschienenen Buch „‚Sie können aber gut Deutsch!‘ Warum ich nicht mehr dankbar sein will, dass ich hier leben darf, und Toleranz nicht weiterhilft“. Eva Neubert stellt das Sachbuch vor und geht der Frage nach, wie aktuell es zehn Jahre später noch ist.

Manuskript

Text

Eine junge Autorin ist für eine Lesung in eine Schule eingeladen. Die Lehrkräfte bezeichnen die Schüler*innen, von denen viele russische Wurzel haben, als Problemfälle. Sie könnten nicht richtig Deutsch und würden sich sowieso viel mehr für das anstehende Champions-League-Halbfinale interessieren. Tatsächlich ist die Lesung gut besucht, die Jugendlichen zeigen sich literaturbegeistert und sprechen fehlerfrei Deutsch. Im Anschluss bittet eine Zeitungsredakteurin um ein Interview. Sie will wissen, was die größten Vorurteile von Russen gegenüber Deutschen seien und umgekehrt. Die Redakteurin fragt auch, ob sich die Autorin eher deutsch, russisch oder auch etwas jüdisch fühle und wie oft sie nach Hause fahre. Denn Lena Gorelik, die Autorin, kam als Kind mit ihrer jüdischen Familie von St. Petersburg nach Deutschland. Gorelik ist genervt. Sie erklärt, dass ihr Zuhause in München sei und sie in einer Viertelstunde dorthin fahre. Gorelik fragt die Journalistin auch, ob sie keine originelleren Fragen an sie als Autorin habe.

 

Mit dieser Anekdote beginnt Lena Goreliks Buch „‚Sie können aber gut Deutsch!‘ Warum ich nicht mehr dankbar sein will, dass ich hier leben darf, und Toleranz nicht weiterhilft“. Gorelik will keine „Vorzeigeausländerin“ sein, ein Begriff, um den sich ein späteres Kapitel dreht. Sie will nicht stellvertretend für andere russischstämmige Menschen oder Migrant*innen überhaupt sprechen. Sie will nicht für ihre erfolgreiche Integration gelobt werden, wo immer eine Abwertung von Menschen mitschwingt, die angeblich „integrationsunwillig“ seien. Daher geht es in Goreliks erstem Sachbuch auch nicht um Integration und Migrationstheorien und auch nicht um Zukunftsideen. Denn Migration, so Goreliks zentrale These, prägt die deutsche Gesellschaft bereits seit langem. Dass es hierbei um Menschen geht mit ihren Problemen, aber auch Ideen, Vergangenheiten und Wünschen, würde häufig vergessen. Dabei sei ein Zusammenleben mit Menschen so viel leichter als mit Ausländern oder Menschen mit Migrationshintergrund. Denn solche Worthülsen täuschten darüber hinweg, wie unterschiedlich die Menschen sind, die in diese Kategorien gepresst werden. Gorelik schreibt daher: „Es ist an der Zeit, dass wir dieses Wir genießen.“

 

Darum, wie das gelingen kann und welche Hürden den Weg erschweren, geht es in dem Buch. Gorelik schreibt über ihr Ankommen in Deutschland und ihren Grundschullehrer, der sie ermutigte, ihre Geschichte zu erzählen, statt sie als Ausländerin mit schlechtem Deutsch abzustempeln. Sie schreibt auch über Gespräche mit sogenannten Menschen mit Migrationshintergrund und einen Besuch bei einer scheinbaren Integrationsverweigerin. Und sie schreibt, dass Menschen weniger darüber sprechen sollten, was sie tun wollen, und mehr handeln sollten.

 

Auch wenn es in dem Buch nicht um Integration als abstraktes Konzept geht, zeigt Gorelik an vielzähligen Beispielen, wie Zusammenleben gelingt. Die Autorin spricht aber über Probleme, gemäß ihrem Anspruch, die Realität zu betrachten, statt Zukunftsvisionen zu verfolgen. Gorelik macht ihren eigenen Standpunkt sehr transparent und liefert Argumente, überlässt es dann aber den Leser*innen, ob sie sich überzeugen lassen. Und ein bisschen geht es bei den Überlegungen zur Gesellschaft von heute dann doch auch um das Zusammenleben von morgen.

 

Das Buch beginnt und endet mit einem sicherlich etwas idealistischen Anspruch: Eigentlich sollte es überflüssig sein und, so Gorelik wörtlich, „im Idealfall im Mülleimer landen“. Denn eigentlich - auch um dieses Wörtchen geht es in einem Kapitel - sollte es selbstverständlich sein, Menschen nicht in Schubladen zu stecken. Dieser Anspruch scheint jedoch auch zehn Jahre später nicht erreicht. Sonst würden wohl kaum rechtspopulistische Parteien so viel Zustimmung erhalten, dass sie wiederholt in Parlamente einziehen. Sonst gäbe es keine ungleiche Behandlung von Migrant*innen und Geflüchteten anhand ihrer Hautfarbe oder Nationalität. Fürs Erste können wir Lena Gorelik also wohl nicht den Gefallen tun, das Buch im Mülleimer zu versenken. Stattdessen sollten wir es lieber noch einmal aus dem Regal kramen, denn Goreliks alltagsnahe Darstellungen können uns auch nach einem Jahrzehnt an manchen Stellen die Augen öffnen.