Sendung: Mittendrin Redaktion
AutorIn: Johanna Wagner
Datum:
Dauer: 06:18 Minuten bisher gehört: 200
Die 1920er scheinen sehr weit weg. Schließlich sind sie schon 100 Jahre her und zwischenzeitlich ist viel passiert. Viele von Ihnen kennen diese Zeit als die „Goldenen Zwanziger“, eine von Jazz und Charleston geprägte Zeit. Der Wirtschaftsaufschwung der frühen Zwanziger führte zu Wohlstand und resultierte in einer florierenden Mode- und Musikszene. Viele haben sicherlich die glitzernden und fransigen Kleider vor Augen, wie sie schwungvoll über die Tanzfläche getragen wurden. Neben all dem Glitzer und Glamour der Mode- und Musikwelt dieser Zeit gab es aber auch eine normale, ganz alltägliche Welt. In diese Welt wurde 1922 Günter Obst geboren. Johanna Wagner hat mit ihm über sein Jahrhundertleben gesprochen.
Dieser Beitrag wird Ihnen präsentiert von: Das Backhaus

Manuskript

O Ton 1, Günter Obst, 20 Sekunden

Mein Name ist Günter Obst. Wie alt bin ich jetzt? Soll man es gar nicht glauben, das ist so ungewöhnlich, denn ich bin genau hundert Jahre alt. Geboren bin ich ´22, 1922.“

 

Text

Auf die Welt gekommen ist Günter Obst in Schlesien, in einem kleinen Ort nahe des Riesengebirges. Sein Vater, Jahrgang 1893, arbeitete im lokalen Bergbau, seine Mutter war Hausfrau. Gemeinsam mit seiner kleinen Schwester lernte er an den schneebedeckten Hängen des Riesengebirges Skifahren, bevor er richtig laufen konnte. Der junge Günter war auch musikalisch: Er spielte sowohl die Querpfeife als auch die Geige, beteiligte sich in einer Schülerkapelle und trat mit dieser auch bei Festen in der Umgebung auf. Noch vor dem Zweiten Weltkrieg begann Obst eine Ausbildung zum Elektroinstallateur. Seine Mutter habe immer amüsiert davon erzählt, wie er seinen Berufswunsch fand:

 

O Ton 2, Günter Obst, 39 Sekunden

Das musst du mir nochmal sagen: Wie bin ich denn zu meinem Berufswunsch gekommen? „Ganz einfach“ sagt sie. „Ich bin mit dir in Waldenburg, das ist eine große Stadt gewesen in Schlesien, und habe an einer Haltestelle der Straßenbahn gewartet auf die Straßenbahn und da war, gerade die elektrische Leitung, in den Masten, da saß ein Monteur oben“. Und da hätte ich – ich war sechs Jahre alt – und da hätte ich zur Mutter gesagt: „Guck mal, so was will ich werden.““

 

Text

Als Elektroinstallateur arbeitete Obst dann auch bis zu seinem Renteneintritt. Wer heutzutage 100 Jahre alt ist, der hat natürlich den Zweiten Weltkrieg miterlebt. So auch Günter Obst. Zu Beginn ging er zur Marine und verblieb dort bis zum Ende des Krieges. Er war Maschinist und hatte verschiedene Aufgaben. Mit viel Glück, welches andere nicht hatten, überlebte er den Krieg und beschreibt seine Zeit in der Marine auch als „schön“. Vor dem Hintergrund des Schreckens und der Gräueltaten des Zweiten Weltkriegs und den Auswirkungen des deutschen Faschismus ist das ein Widerspruch, der nicht zu lösen ist. Nach dem Krieg kam Günter Obst über Frankfurt und das Grenzdurchgangslager Friedland schließlich nach Lenglern. Und – wie der Zufall es wollte, hatte die Firma, bei der er in Schlesien seine Ausbildung absolviert hatte, in Göttingen einen Sitz.

 

O Ton 3, Günter Obst, 22 Sekunden

Meine frühere Firma hatte ein großes Haus und die sagten: „Mein Gott Sie kommen gerade zur rechten Zeit.“ Die wussten natürlich wer ich war. Die hatten das in ihren Akten alles noch da. War die selbe Firma, wo ich früher in Schlesien gearbeitet habe, nicht? Und – sofort los!“

 

Text

Denn Elektriker wurden händeringend gesucht. Das Unternehmen gibt es auch heute noch, es heißt EAM “Elektrizitäts-Aktiengesellschaft Mitteldeutschland“ und hat seinen Sitz in Kassel. In Lenglern war es auch, wo Obst seine spätere Ehefrau kennenlernte. Geheiratet haben sie in der historischen Göttinger Junkernschänke. Seine Schwiegermutter gab ihm ein Stück Land in Lenglern, auf dem er dann ein kleines Haus für sich und seine Frau baute. Gemeinsam gründeten sie auch eine Familie mit zwei Töchtern und einem Sohn. Obst erinnert sich gerne zurück an diese Zeit in Lenglern:

 

O Ton 4, Günter Obst, 34 Sekunden

Die drei Kinder, die kamen auf die verrücktesten Sachen. Hatten wir eine Henne gesetzt und wir hatten einen Haufen Küken. Die wurden groß, ja was nun, als die Hühner laufen konnten, kriegten die alle ein Band hier um den Hals und dann gingen meine Mädchen mit ihren ganzen Freundinnen aus dem Ort, gingen sie mit den Hühnern im Dorfe spazieren. Es war doll. Aber war eine schöne Zeit, können Sie sich ja vorstellen.“

 

Text

In hundert Jahren Lebenszeit bleiben Schicksalsschläge nicht aus. Für Obst war es der frühe Tod seiner Ehefrau. Und der noch frühere Tod seiner zweiten Tochter. Sie starb im Alter von nur 23 Jahren an Brustkrebs. Ihr Tod geht ihm auch Jahrzehnte später noch sehr nahe. Bis zur Rente arbeitete Obst bei der EAM. Heute lebt er in einem Göttinger Pflegeheim. Auch auf ihn und die anderen Bewohner*innen hatte die Corona-Pandemie Auswirkungen:

 

O Ton 5, Günter Obst, 27 Sekunden

Leider haben wir hier mit der Krankheit zu tun. Hat vieles natürlich hier unterbunden. Wir hatten hier Therapeuten sozusagen, wurden wir ja so ein bisschen munter gehalten, nicht wahr? Also man wurde auch etwas für die Beweglichkeit und für den Geiste, den Kopf auch was unternommen, dass man also nicht hier so verkommt, nicht? War also ganz schön.“.

 

Text

Günter Obst zeigt sich zufrieden mit seinem Leben. Zuerst die Kindheit im Riesengebirge, an dessen wunderschöne Landschaften er sich gerne erinnert. Dann nach dem Krieg die Zeit in Lenglern mit seiner Familie im Haus mit Garten, Teich und Hühnern. Seine Arbeit habe er auch gerne ausgeübt, sagt er. Und er ist überzeugt, viel Glück in seinem, Leben gehabt zu haben. Zum Beispiel, während seiner Zeit als Soldat, aber auch weil die Firma, bei der er eine Ausbildung absolviert hatte, ausgerechnet auch in Göttingen einen Standort hatte.

 

O Ton 6, Günter Obst, 39 Sekunden

Als Hundertjähriger wollte ich nicht mehr arbeiten. Ich fühl mich hier wohl. Denn was soll ich klagen, mit hundert Jahren? Kann ich kein junges Mädchen mehr sein, nicht? Ich muss zufrieden sein. Der Geist ist noch da, hören kann ich noch, da gibt es schöne Ersatzteile. Laufen macht mir keine Schwierigkeiten. Kann natürlich nicht mehr wie ein junger Mensch hier, Hoppla Hopp machen und so weiter, nicht? Naja sehen Sie, heißt es doch so schön: Was frag ich viel nach Geld und Gut wenn ich zufrieden bin? Das ist also mein Wahlspruch und bislang [hat er] noch funktioniert.“