Sendung: Mittendrin Redaktion
AutorIn: Tina Fibiger
Datum:
Dauer: 04:55 Minuten bisher gehört: 256
Das strahlende Gesicht lässt die Behinderung nicht erkennen. Auch bei der Frau im Krankenhausflur verweist erst die Bildunterschrift auf ihre Blindheit. Für den PC-Techniker braucht es wiederum ein zweites Foto, das seine Handprothese deutlich sichtbar werden lässt. Die Aufnahmen sind Teil einer Fotoausstellung, mit der die Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege jetzt auch in Göttingen Station macht. Im Zentrum der Open Air-Galerie am Waageplatz steht der Alltag von Menschen, die sich trotz ihrer Behinderung eine Berufsperspektive geschaffen haben. Unter dem Motto „Mensch – Arbeit-Handicap“ haben die Fotografen dabei auch die Alltagshürden beim Thema Inklusion dokumentiert. Tina Fibiger hat sich die Ausstellung gemeinsam mit Linus Müthig vom Team der Beratungsstelle „Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung“ (EUTB) angesehen.

Manuskript

Text

Der Bäckergeselle strahlt voller Stolz mit seinem Kuchenblech in die Kamera. So wie die Grafikerin, die ihren verkrümmten Gliedmaßen kreativ erfolgreich trotzt. Die Psychoonkologin vertraut zwar in den fast barrierefreien Klinikfluren auf ihren Stock, doch der Fotograf will diesen Hinweis auf ihre Blindheit in seiner Aufnahme keineswegs betonen. Auch das Bild des Kajakfahrers auf seiner Wildwasserroute sagt nichts über seine Beinamputation aus – das vermögen erst die Aufnahmen aus dem Kraftraum. Bei dem Porträt der jungen der Frau macht wiederum erst der Begleittext aufmerksam auf ihre Borderline-Erkrankung, während der kleinwüchsige Rollstuhlfahrer mit seinem Handybike seine Behinderung unmissverständlich demonstriert. Die Aufnahme spricht Linus Müthing von der Beratungsstelle „Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung“ (EUTB) besonders an, weil das Handicap hier nicht verborgen bleibt

 

O-Ton 1, Linus Müthing, 26 Sekunden

Das sieht man halt in den Bildern, die jetzt sozusagen so aus dem Alltag kommen, wo derjenige zum Beispiel ins Auto steigt. Das macht jeder, ob er nun eine Behinderung hat oder nicht. Oder wenn er jetzt über so eine Baubrücke geht. Und dass es da eben besondere Handicaps gibt. Wenn ich als Rollstuhlfahrer vor einer Stufe stehe versteht auch der Letzte, dass diese Stufe jetzt ein Handicap für mich ist. Das ist bei einer nicht sichtbaren Behinderung wieder ganz anders. Dann kommt ganz oft die Aussage: „Reiß Dich doch mal zusammen! Das wird schon!“. Das ist halt trotzdem auch eine Behinderung.“

 

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In den 16 Bild- und Text-Porträtserien, die anlässlich eines Fotowettbewerbs der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege prämiert wurden, geht es vor allem um die selbstbestimmte Teilhabe am Berufsleben und die dafür notwendige Unterstützung. Eine fremde Hand hält den Telefonhörer für den Contergan-geschädigten Rollstuhlfahrer, der sich als Theatermacher ganz selbstverständlich vor der Bühne behauptet und seine Regieanweisungen gibt. Auf ganz andere Weise berühren die Aufnahmen der medizinischen Tastuntersucherin und wie sie verdächtige Knoten in Brüsten blind ertastet, die der Ultraschall nicht erfasst hat. Mit welcher seelischen Behinderung auch immer die Mitarbeiter in einem Hamburger Integrationshotel zu kämpfen haben, wird aus der Fotoserie nicht ersichtlich. Dafür umso mehr, dass sie ein selbstbewusstes Team bilden, das jetzt gerade Betten macht oder Getränke serviert und dabei offensichtlich Spaß hat. So hat sie auch Müthing erlebt, der darauf hofft, dass dieses inklusive Modell bundesweit Schule macht.

 

O-Ton 2, Linus Müthing, 21 Sekunden

Es gibt ja verschiedene Möglichkeiten, Menschen in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren. Da ist jetzt ja mit dem Bundesteilhabegesetz viel passiert. Viele Möglichkeiten sind geschaffen worden oder sind zumindest jetzt mehr in den Fokus gerückt worden. Und da haben wir noch viele dicke Bretter zu bohren, bis das zur Selbstverständlichkeit wird. Diese Selbstverständlichkeit, die muss man sich erkämpfen. Also man ist immer in diesem Status: Ich muss meinen Status quasi verteidigen.“

 

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Drei Ausstellungsstationen sind am Waageplatz entstanden. Auf den Metallgestellen sind sowohl die Aufnahmen als auch die Texte doppelseitig abgebildet und machen das Thema „Mensch – Arbeit – Handicap“ inhaltlich aus mehreren Perspektiven erfahrbar: In der unmittelbaren Nahaufnahme und aus der Distanz und dann eben auch in den sichtbaren und den unsichtbaren Handicaps. Sei es für den gelähmten Autor, der sich auch dann wie ein König im Rollstuhl fühlt, wenn sein Körper in einer Theaterperformance mit großen Gesten die Bühne für sich behauptet. Oder dann für den Blick auf verschwommene Landschaften und all die kaum wahrnehmbaren Barrieren, wie sie Metallkorridore, Schwellen und Stufen bilden. Müthing erlebt diese Barrieren bei seinem Ausstellungsbesuch ganz unmittelbar. Sein Rollstuhl würde auf den feuchten Grasflächen einsacken und die Schwellen, die die Stromkabel rund um das Ausstellungsgelände ummanteln, sind für ihn kaum passierbar, so dass er zum distanzierten Betrachter wird.

 

O-Ton 3, Linus Müthing, 18 Sekunden

Ich finde es eigentlich schade, so einen negativen Ausstellungsort für Menschen mit Handicap, wo viele mit einer körperlichen Behinderung gar nicht dicht genug an die Bilder ran kommen können und auch die Texte dazu zu lesen. Ich habe mich in vielen Bildern wiedergesehen, wegen des Rollstuhls bei mir halt jetzt. Aber es sorgt für eine unnötige Distanz, dieser Abstand.“

 

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Wie die Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege erklärte, war der Waageplatz der einzig öffentliche Platz, den die Stadt Göttingen für die Ausstellung zur Verfügung stellen konnte. Die Kabelbrücken wurden inzwischen nachgebessert, so dass die Begegnung mit dem Thema „Mensch- Arbeit – Handicap“ sich in dieser Woche weniger hindernisreich gestaltet.