Sendung: Mittendrin Redaktion
AutorIn: Ulrike Streicher
Datum:
Dauer: 06:21 Minuten bisher gehört: 530
Einen Betreuungsplatz für das eigene Kind zu finden, ist nicht leicht und wird auch zukünftig ein schweres Unterfangen sein: Für das kommende Jahr werden, laut einer aktuellen Bertelsmann-Studie, bundesweit 384.000 Betreuungsplätze in Krippen und Kitas fehlen. Doch nicht nur Betreuungsplätze sind Mangelware, sondern auch qualifiziertes Fachpersonal. Letzteres bekommen Eltern von Göttinger Kita-Kindern schon jetzt zu spüren. Seit Beginn des neuen Kita-Jahres vor ein paar Wochen sehen sie sich mit vermehrten Betreuungsausfällen aufgrund von Personalmangel konfrontiert. Ulrike Streicher ist der Situation für uns auf den Grund gegangen:

Vor dem Neuen Rathaus weisen Bänder auf die ausgefallenen Betreuungstage in den städtischen Kitas hinweisen. (Bild: Ulrike Streicher)

Zwischen den Bändern, die die augefallen Betreuungstage symbolisieren, finden sich auch Handlungsaufforderungen an die Politik. (Bild: Ulrike Streicher)

Manuskript

Text

Wer dieser Tage am neuen Rathaus vorbeigeht, dem springen unzählige farbige Bändchen, säuberlich aufgereiht auf einer Wäscheleine, ins Auge. Doch was auf den ersten Blick wie eine Verschönerung des grauen Hochhauses wirkt, hat einen ernsten Hintergrund. Mit der Aktion „Das Band spricht Bände“, will die gemeinsame Initiative der Eltern der städtischen Kitas Insterburger Weg und Weende West, auf einen Missstand hinweisen. In Letzterer ist nämlich seit August fast jeder dritte Betreuungsstag im Krippenbereich ausgefallen. Für jeden dieser ausgefallenen Betreuungstage haben die betroffenen Kinder zusammen mit ihren Eltern dort ein farbiges Bändchen aufgehangen. Ariane Mühlethaler, Elternbeiratsmitglied der Kita Insterburger Weg, erklärt dazu:

 

O-Ton 1, Ariane Mühlethaler, 40 Sekunden

Mein Eindruck ist, dass die Eltern, die Erzieher und sogar die Kinder immer alles geben, um das System irgendwie aufrecht zu erhalten. Die Konsequenz daraus ist, dass ich das Gefühl habe, dass die meisten ziemlich ausgelaugt sind – die Erzieher zum Teil auch wirklich über ihre Grenzen gehen und dass es gesundheitlich dann auch schädlich wird. Das passiert viel im Verborgenen, das ist noch nicht in der Öffentlichkeit genug angekommen. Deshalb war dieses Symbol mit dieser Wäscheleine, die sich nach und nach füllt, wo man wirklich sieht: Oh noch mehr Ausfalltage – dass die Personen, die verantwortlich sind, dass regelmäßig sehen und dass es eben im Kopf bleibt, dass da wirklich ein Problem ist und dass da gehandelt werden muss.“

 

Text

Vom vermehrten Betreuungsausfall in Göttinger Kitas sind fast alle Einrichtungen, sowohl von städtischen als auch freien Trägern betroffen. Vielfach wird versucht, komplette Gruppenschließungen zu vermeiden. Stattdessen werden nur die Randzeiten am Nachmittag von 14 bis 16 Uhr gekürzt, um den betroffenen Eltern mehr Planungssicherheit zu geben, aber auch um die Qualität in der pädagogischen Arbeit zu gewährleisten, wie Ruth Kiefer, Leiterin des KEI-Kindergartens und Sprecherin des Bündnisses der freien Träger in Göttingen erklärt:

 

O-Ton 2, Ruth Kiefer, 50 Sekunden

Es wird immer schwieriger tatsächlich, den Normalbetrieb aufrecht zu erhalten und wir sind manchmal auch gezwungen, ganze Gruppen zu schließen, aber wir versuchen wenigstens die Kernzeit zu erhalten. Wir haben ja wirklich auch den Anspruch qualitativ gute Arbeit zu leisten und das geht eigentlich nur, wenn wir uns konzentrieren auf den Vormittagsbereich oder eben bis 14 Uhr. Wenn wir das verlängern, dann ist eigentlich den ganzen Tag über Personalmangel und die Qualität sinkt und sinkt… und meine Kolleg*innen sind unzufrieden, wenn sie auch keine Kunst- oder Turnangebote machen können, weil sie immer ja Personallöcher stopfen müssen. Und das wirkt sich natürlich auch auf die Kinder aus. Wir haben ja nicht nur einen Aufbewahrungsauftrag, wir haben einen Bildungsauftrag und da ist ja in der Vergangenheit auch von der Politik sehr viel Wert daraufgelegt worden und den möchten wir auch aufrechterhalten.“

 

Text

Zwar versuchen die Einrichtungen im Fall von Gruppenschließungen den Betroffenen eine Notbetreuung anzubieten - die Umsetzung dieser Maßnahme ist jedoch von Kita zu Kita unterschiedlich ausgestaltet. Eltern kritisieren, dass sich dabei oft nicht am Betreuungsbedarf der jeweiligen Erziehungsberechtigten orientiert wird, sondern bspw. Gruppen nach Alphabet geteilt und abwechselnd nur eine Hälfte der Gruppe an einem Ausfalltag betreut werden kann. Viele Eltern und auch einige freie Träger wünschen sich als kurzfristige Maßnahme deshalb, im Notfall auf die Unterstützung der Familien bei der Betreuung zurückgreifen zu dürfen, was rechtlich derzeit nicht möglich ist. Dominik Kimyon, Pressesprecher der Stadt Göttingen, steht diesem Vorstoß kritisch gegenüber, da er die unterstützenden Eltern dann in einer Doppelrolle sähe und es nicht leicht sei, den pädagogischen Ansprüchen aller gerecht zu werden. Dass trotz angebotener Notbetreuung der vermehrte Betreuungsausfall für Berufstätige kaum zu kompensieren ist, schildert Jessica Schmack, betroffene Mutter aus der Kita Insterburger Weg:

 

O-Ton 3, Jessica Schmack, 37 Sekunden

Die Auswirkungen waren ganz klar vermehrter Stress für mich. Ich bin alleinerziehend, ich hab dann auf Familie zurückgegriffen, teils natürlich sonst auch auf Kind krank – es funktionierte ja sonst nicht anders. Ich war, naja, auch ein bisschen verbittert wegen der Arbeit, weil ich konnte meinen Patienten nicht gerecht werden, ich konnte meinen Kindern nicht gerecht werden und ich konnte mir nicht gerecht werden. Mein Arbeitgeber, der ist noch sehr kulant und versteht die Situation, aber er braucht auch zuverlässige Arbeiter und ich kann nicht mit mitten im Dienst von der Station verschwinden und die Patienten, Patienten sein lassen. Ich muss wenn ich da bin, auch da sein und auch voll mit dem Kopf da sein und das ist der Spagat dabei.“

 

Text

Allen Beteiligten ist klar, dass sich an der vorherrschenden, angespannten Personalsituation etwas ändern muss. Dem zunehmenden Fachkräftemangel gepaart mit den Auswirkungen der Corona-Pandemie muss entgegengewirkt werden. Dominik Kimyon, Pressesprecher der Stadt Göttingen sieht zwar, dass das Land Niedersachsen in den vergangenen Jahren starke Anreize für die Kinderbetreuung in Kitas gesetzt habe, dabei sei aber in diesem Zuge die Rekrutierung von Erzieher*innen aus dem Blick geraten und die Ausbildung des Fachpersonals nicht rechtzeitig im erforderlichen Maße reformiert worden. Wichtig wäre dafür, so Kimyon, eine angemessene Bezahlung, die es für viele pädagogische Fachkräfte immer noch nicht gäbe. Auch Ruth Kiefer, Sprecherin des Bündnisses der freien Träger in Göttingen, sieht Handlungsbedarf bei der neuen Landesregierung:

 

O-Ton 4, Ruth Kiefer, 29 Sekunden

Langfristig müsste man natürlich viel mehr Menschen ausbilden. Wir brauchen endlich ein duales Ausbildungssystem, wo die Auszubildenden von Anfang an auch eine Entlohnung bekommen. Dann wäre der Beruf attraktiv. Und gleichzeitig muss man natürlich auch viel mehr Lehrkräfte in Niedersachsen ausbilden und das Quereinsteigen ermöglichen. Und ausländische Bildungsabschlüsse müssten anerkannt werden. Da ist es langfristig auch wichtig den Betreuungsschlüssel zu verbessern.“

 

Text

Die Verantwortlichen in Verwaltung und Politik haben auf die Notlage in Göttinger Kitas reagiert und sind auf Initiative des Jugendhilfeausschuss zusammen mit allen Akteur*innen - Eltern, Erzieher*innen, Trägern und der Kommune – auf der Suche nach Verbesserungen und Auswegen aus der prekären Situation. In einer gemeinsamen Sitzung haben sie Ende Oktober einen Forderungskatalog an die neue Landesregierung entworfen, der Sofortmaßnahmen, wie die Elternhilfe oder den Einsatz von ehrenamtlichen Personen im Betreuungsnotfall, vorsieht, aber auch langfristige Maßnahmen zur Fachkräftegewinnung bereithält. Ob und wie dazu in Hannover entschieden wird, werden die nächsten Wochen und Monate zeigen. Alle Akteur*innen eint die Hoffnung, dass die Wäscheleine vor dem Neuen Rathaus sich nicht weiter mit bunten Bändchen füllen muss.